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Von der Verteidigungs- zur Interventionsarmee

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mizzgeburt
verfasst am 11.10.2006 um 22:38:34 Uhr

Entstehung und Wandel der Bundeswehr
vom geteilten zum wiedervereinigten Deutschland

Brigadegeneral a.D. Reinhard Günzel
( Stand: Oktober 2006)

Es gibt geschichtliche Phänomene, die sich dem Betrachter nicht so ohne weiteres erschließen. Wie ist es zum Beispiel zu erklären, daß man während des gesamten Mittelalters selbst an vornehmsten europäischen Fürstenhöfen unter jämmerlichen Hygienebedingungen förmlich dahinvegetierte, obwohl doch die Römer die modernste Heizungs- und Bädertechnik importiert und hatten?

Oder: wie ist es möglich, daß 60 Jahre, nachdem deutsche Soldaten an allen Fronten und unter allen klimatischen Bedingungen Leistungen erbracht haben, vor denen sich die Welt in stummer Bewunderung verneigt, wiederum deutsche Soldaten als die „Hasen vom Amselfeld“ eine traurige Berühmtheit erlangten, als im März 2004 ein bis an die Zähne bewaffneter Panzergrenadierzug vor einer Bande marodierender Kosovaren die Flucht ergriff? (Wobei sich unsere Soldaten in einer komfortablen Situation befinden, denn eine Armee, die Waffenstolz und Ehre kaum noch kennt, kann diese auch nicht verlieren.)

Nun wissen wir nicht erst seit Schopenhauers Arbeit über die „Vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“, daß auch die kaum faßbaren Ereignisse immer auf einen sehr guten Grund zurückzuführen sind. Und so ist eben auch unsere Bundeswehr nicht eines schönen Tages vom Himmel gefallen als das Ergebnis des unerforschlichen göttlichen Ratschlusses – sie ist das Produkt dieses Staates. Und wenn man die Frage stellt, warum sich die Dinge so und nicht anders entwickelt haben, dann tut man gut daran, die Geburtsstunde unserer Streitkräfte zu betrachten. Und da wird man sofort feststellen, daß diese Armee von Anfang an ein ungeliebtes Kind dieses Staates war; daß sie nie wirklich innerlich akzeptiert, sondern bestenfalls toleriert wurde, daß sie immer nur ein „notwendiges Übel“ war. Im Grunde war sie sogar ein „ungewolltes Kind“, denn sie ist ja nicht aus dem Volk heraus entstanden, sondern aus einer „Liaison“ mit den Besatzungsmächten. Adenauer ging es ausschließlich darum, mit zwölf schnell aufgestellten Divisionen die Bündnisfähigkeit der BRD wiederherzustellen. Die Schlagkraft spielte dabei überhaupt keine Rolle. Und so hat man nicht etwa dem Wunsch der Amerikaner entsprechend Streitkräfte geschaffen, die „genauso wie die Wehrmacht, nur ohne Hakenkreuz“ waren, sondern – beseelt von der Vergangenheitsbewältigung und fasziniert von der „Gunst der Stunde Null“ – eine Armee konzipiert, die sich in allem von der „furchtbaren Wehrmacht“ unterscheiden sollte. Das ist brillant gelungen. Denn während die Wehrmacht all ihren Gegnern weit überlegen war, müßte sich die Bw schon sehr auf die Zehenspitzen stellen, um da heranzureichen. Man hatte das Gefühl, daß sich die Schöpfer der Bundeswehr immer für ihr Werk entschuldigen wollten. Daher: bloß nicht zu militärisch, bloß keine Ähnlichkeit mit früheren deutschen oder preußischen Armeen! Und so war die Aufstellung der ersten Divisionen getragen von einem deutlichen Mißtrauen gegen den Soldaten, gegen das Militär, dem man ja die Schuld an der Katastrophe gegeben hatte.

Und alles, was nicht aus Liebe gezeugt wird, trägt schwer unter dieser Erblast. Diese Angst spiegelt sich in vielen Organisationsstrukturen wider, angefangen beim Wehrbeauftragten, dem institutionalisierten Mißtrauen! Andere Beispiele sind die Wehrgesetzgebung oder die Tatsache, daß wesentliche Funktionen in der Hand von Beamten liegen, daß die Bw keine Militärgerichtsbarkeit ausüben darf, über keinen eigenen Nachrichtendienst verfügt, und daß der höchste Soldat weitgehend machtlos unter dem Staatssekretär rangiert. Man hatte oft das Gefühl, daß irgendeine geheime Kraft permanent Sand ins Getriebe schaufelte, damit diese Armee bloß nicht über ein bescheidenes Mittelmaß hinauskommt. Natürlich hatten etwa zehntausend Offiziere und rund dreißigtausend Unteroffiziere der Wehrmacht die Bw aufgebaut und dabei natürlich versucht, ihr einen gewissen Geist und Haltung zu vermitteln. Aber – wie jeder Pfadfinder weiß – wenn die Marschkompaßzahl falsch eingestellt ist, dann kann man laufen wie der Wind: man kommt nicht ans Ziel. Erschwerend kommt hinzu, daß dieser Homunculus „Bürger in Uniform“, den man ja aus purer Angst vor dem Soldatischen geschaffen hatte, selbstverständlich keinerlei Verbindung haben durfte zu unserer großen soldatischen Tradition. Man hatte also einen Baum gepflanzt ohne Wurzeln; und wen kann es da wundern, daß dieser Baum wie ein Schilfrohr im Sumpf des Zeitgeistes hin und her schwankt? Und es ist daher erstaunlich zu erleben, mit welch beispielhafter Leistungsbereitschaft die vielen hervorragenden Soldaten und Kommandeure, die diese Bw natürlich hatte und hat, ihr exzellentes Potential immer wieder glänzend unter Beweis gestellt haben, weil offenbar dieser Volkscharakter auch mit der kläglichsten ideologischen Konzeption nicht totzukriegen ist. An der betrüblichen Gesamtsituation kann das aber leider nichts ändern.

Die Geburtsstunde der Bw ist natürlich untrennbar verbunden mit den beiden Schlüsselbegriffen „Innere Führung“ und – ich nannte ihn bereits – dem berühmten „Bürger in Uniform“. Ein Begriff, der von den Gründungsvätern der Bundeswehr eingeführt wurde, um den damals gewünschten Soldatentyp zu beschreiben, und der offiziell noch immer Bestand hat. Dieses idyllische Bild, das man aus der Biedermeierzeit entliehen hatte: der wackere Bürger, der auf der Stadtmauer steht und seine Heimat verteidigt, - also der Bäcker, Schuster oder Uhrmacher, der jetzt vorübergehend eben Uniform trägt, der aber natürlich kein Soldat war, und der daher – trotz seiner Beliebtheit im Volk – soldatisch auch nicht viel getaugt hat. Nun konnte man sich aber im sogenannten Atomzeitalter einen solchen Mann durchaus noch leisten, weil die Bw von Anfang an als Abschreckungsarmee konzipiert war. Hätte die Abschreckung versagt, wäre die Armee ohnehin kurze Zeit später im atomaren Feuerball verglüht. Das war die herrschende Vorstellung. Und darum brauchte der Soldat auch nicht kämpfen zu können. Die Schlagkraft der Truppe war völlig irrelevant! Und die Frage, warum ein solcher Begriff überhaupt eingeführt wurde, ist nur zu erklären als Ausdruck und Ergebnis des damaligen Biedermeierdenkens nach dem Kriege, weil der Rückgriff auf diesen liberalen Spießbürger in Uniform genau der Denkungsart der damaligen Zeit entsprach. Und er entsprach damit natürlich auch in idealer Weise dem Konzept der „Inneren Führung“ des Grafen Baudissin, das damit genau in die Marktlücke paßte, um die Nachkriegsmentalität des „ohne mich“ mit der Wiederbewaffnung zu versöhnen.

Und damit sind wir bei dem zentralen Kern- und Reizbegriff dieser Armee: der „Inneren Führung“. Ich will dies in der gebotenen Kürze versuchen, obwohl es natürlich eher eine Frage für ein Wochenendseminar ist. Denn man hat ja eigens zur Erklärung und Vermittlung dieses äußerst schillernden Begriffes eine eigene Schule geschaffen: das „Zentrum Innere Führung“ in Koblenz. Ganze Bibliotheken sind mit entsprechenden Abhandlungen gefüllt! Und das allein zeigt schon, daß diese Idee – um nicht zu sagen: Ideologie – nicht truppentauglich ist. Ich unterstelle dem Grafen Baudissin – dem Schöpfer der „ Inneren Führung“ – durchaus ehrenwerte Absichten, edle Motive. Aber er war doch, bei allem schuldigen Respekt, in vielen Belangen ein Romantiker, auf der Suche nach der „blauen Blume des Militärs“! Und „heilige Einfalt“ kann und darf doch nicht die Grundlage einer Armee sein, bei der es im Ernstfall um nichts Geringeres geht als um Leben und Tod, um die Existenz unserer Nation! Und es ist immerhin bemerkenswert festzustellen, daß keine Armee der Welt dieses Konzept der „Inneren Führung“ übernommen hat, obwohl es immer wieder – gerade jetzt den neuen NATO – Partnern aus Mittel- und Osteuropa – als großer Erfolgsschlager angedient wird.

Alle haben es sofort beiseite gewischt und nur nach „Wehrmachtslösungen“ gefragt. So etwa der renommierte israelische Militärwissenschaftler van Creveld, der in seinen Werken immer wieder der Frage nachgeht: „Was hat oder hätte die Wehrmacht in dieser Lage gemacht? Was war das Erfolgsgeheimnis der Wehrmacht?“ Kein Mensch hat jemals die Frage nach der Bundeswehr gestellt! „Innere Führung“ wird von vielen als „zeitgemäße Menschenführung“ übersetzt. Aber das greift natürlich viel zu kurz. Wenn es nur das wäre, dann hätte man sich die Kubikmeter von Literatur sparen können. Welche Armee würde denn nicht von sich behaupten, daß sie ihre Soldaten „zeitgemäß“ führt? Und gerade die deutschen und preußischen Armeen sind – schon seit dem Großen Kurfürsten – beispielhaft in ihrer Menschenführung gewesen. Anders wären doch die glänzenden Erfolge – zumal überwiegend aus einer Unterlegenheit an Zahl – gar nicht möglich gewesen. Nein! Menschenführung mußte in Deutschland nicht neu erfunden werden! Das Wesen der „Inneren Führung“ ist deshalb etwas ganz anderes: Ihre beiden entscheidenden Faktoren bestehen darin, daß der Soldat erstens keine eigene Kultur mehr haben darf, geschweige denn eine Sonderstellung im Staat. Der Satz des damaligen Verteidigungsministers Kai-Uwe v. Hassel: „Der Beruf des Soldaten ist ein Beruf wie jeder andere;“ bündelt diese verhängnisvolle Forderung. Aber so etwas funktioniert, wie bereits gesagt, allenfalls in einer Abschreckungsarmee. Der Soldat brauchte im Kalten Krieg nicht gehätschelt zu werden, weil er ja für diesen Staat nicht kämpfen und schon gar nicht sterben mußte. Aber genau das gilt jetzt nicht mehr, und darum hat sich auch der Begriff der „Inneren Führung“ erledigt.

Zweitens bedeutet „Innere Führung“ die Verbürgerlichung des Soldaten: Sein Wesenskern, das Soldatische, soll verschwinden. Er soll eigentlich Zivilist sein, soll aber gleichzeitig das können, was ein Soldat kann – von dem besonderen Berufsethos einmal ganz abgesehen. Und das kann nicht funktionieren. Es ist ein Spagat, der jeden Menschen überfordert. Man kann doch nicht von einem Fallschirmjäger verlangen, bei Nacht und Nebel aus 4000 m Höhe in einen Busch hineinzuspringen, vier feindliche Soldaten bei den Ohren zu packen – und sich dann tags darauf so brav zu benehmen wie die Oberschwester Maria! Diesen Menschen gibt es nicht! Die Verwirklichung der klassischen soldatischen Tugenden setzt einen besonderen Typus Mann voraus, der eben nicht „nebenbei“ auch noch Zivilist ist. Der Verteidigungsminister Strauß hat einmal so schön ironisch gesagt: „Die Bundeswehr soll einerseits die sowjetischen Divisionen an der innerdeutschen Grenze aufhalten und andererseits so brav sein wie die Freilassinger Feuerwehr.“ Wenn man von einem Soldaten verlangt, daß er mitten im Frieden sein Leben aufs Spiel setzt, während der Bundesbürger dies im bequemen Sessel am Fernsehschirm verfolgt, dann muß man ihm schon etwas mehr geben als Geld; oder man muß ihm wenigstens dieses Geld geben – aber dann richtig. Mit einer Gewerkschaftsarmee, die man behandelt wie ein bewaffnetes „Technisches Hilfswerk“, ist so etwas nicht zu haben.

Denn was gibt dieser Staat seinen Soldaten?

* Ehre? – Ein Begriff, der seit langem abgeschafft ist.

* Ansehen? – Wenn man sie ungestraft als Mörder bezeichnen darf?

* Geld? – Ein Obolus, für den kein Elektriker auf einen Hochspannungsmast klettert.

Und wenn man weiß, wie „großzügig“ unsere Politiker selbst den Einsatz unserer wenigen Kommandosoldaten honorieren, dann kann man sich vorstellen, welcher Soldatentyp bereit sein wird, sich mitten im Frieden totschießen oder verstümmeln zu lassen. Und so wird man den Versuch unseres Staates, solche Männer quasi zum Nulltarif zu gewinnen, mit Interesse beobachten. Natürlich wird es immer einige Idealisten geben; ob das aber für eine Armee von einer Viertelmillion Mann ausreicht, wird sich zeigen. Es würde den Rahmen eines solchen Vortrages bei weitem sprengen, alle Geburts- und Konstruktionsfehler unserer Streitkräfte aufzuzählen; wobei der Begriff „Fehler“ irreführend ist, denn er impliziert, daß irgend etwas schiefgelaufen wäre; das Gegenteil ist der Fall: die Bundeswehr ist exakt so, wie man sie haben wollte.

Aber ein wichtiger Gesichtspunkt muß noch genannt werden, um Geist und Charakter dieser Armee besser verstehen zu können: Gemäß § 50 (1) des Soldatengesetzes kann der Minister einen Soldaten ab Brigadegeneral aufwärts jederzeit auch ohne Angabe von Gründen in den vorzeitigen Ruhestand versetzen. Eine Maßnahme, die es noch nie zuvor in den deutschen Streitkräften gegeben hat. Und da das Avancement, das Karrieredenken in den Streitkräften wesentlich ausgeprägter ist als in vielen anderen Berufen – denn man trägt ja seine Intelligenz, sein Leistungsvermögen sichtbar auf der Schulter – hat dies zur Folge, daß sich unsere Generalität überwiegend so verhält wie es politisch – und leider eben auch parteipolitisch – gewünscht ist. Denn wenn man in die Vorstandsetage aufrücken will, kann man nicht die Firmenphilosophie infrage stellen. Und so kann es auch nicht verwundern, daß die wenigen öffentlichen Akte von Zivilcourage nur aus der Wehrmachtsgeneration bekannt sind. Eines der wenigen Beispiele der Bundeswehrgeneralität ist der GM Schultze-Rhonhof, der aus Protest gegen die mangelnde Einsatzbereitschaft des Heeres dem Minister Rühe seinen Posten anbot - und dafür bis heute in der Bw geächtet ist.

Eine kleine Anekdote mag den Erfolg dieser „klugen“ Personalmaßnahme verdeutlichen: Nach dem französischen Militärputsch von Algier fragte Adenauer den Staatssekretär Gumbel recht besorgt, ob denn so etwas auch in Deutschland passieren könne; worauf Gumbel lächelnd antwortete: „Aber Herr Bundeskanzler – bei unserer Personalauswahl!“ Und so konnte Hans Rühle, als Leiter Planungsstab unter Minister Wörner ein intimer Kenner der Materie, sarkastisch feststellen: „Zivilcourage gehört nicht zur Grundausstattung der Generalität.“ Und wenn sich der General politisch konform verhält, wird man vom Stabsoffizier kaum etwas Anderes erwarten.

Und es ist daher nicht verwunderlich,

* daß in einer solchen Armee nicht mehr zu „Männerstolz vor Königsthronen“ erzogen wird – soweit überhaupt noch erzogen wird,

* daß Gehorsam und Disziplin eher in den höheren Rängen Beachtung finden,

* und daß die berühmte „Auftragstaktik“ zwar ganz oben auf die Fahnen geschrieben wird, in der Praxis jedoch kaum noch stattfindet, weil sie eben ein ganz anderes Menschenbild voraussetzt.

Und diese Armee,

* die 40 Jahre lang unter so schizophrenen Schlagworten zu leiden hatte, wie: „der Friede ist der Ernstfall“ oder: „kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen“,

* die sich in einem militärischen Wolkenkuckucksheim behaglich eingerichtet hatte, indem sie den Krieg vollständig aus ihren Gedanken und aus ihrem Vokabular verdrängt hat,

* die also aus vielen Uniformierten, aber nur wenigen Soldaten bestand,

diese Armee wird nun über Nacht aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt und nimmt – nach einer neuerlichen „Transformation“ – an den unterschiedlichsten Operationen in drei Kontinenten teil. Und der Bundesbürger reibt sich verwundert die Augen, wenn er sieht, daß dieselben Politiker, die noch kurz zuvor gegen jeden Auslandseinsatz förmlich mit „Klauen und Zähnen“ gekämpft haben, jetzt plötzlich nach Auslandseinsätzen regelrecht süchtig sind. Der Generalinspekteur erklärt voller Stolz, „daß diese Armee nun überall in der Welt eingesetzt werden könne“, und nach Aussage des vormaligen Verteidigungsministers Struck wird ja Deutschland bekanntlich am Hindukusch verteidigt. Und auch der bemerkenswerte Satz: „Einsatzgebiet unserer Streitkräfte ist die ganze Welt“ stammt nicht etwa aus dem Jahr 1942, sondern von eben diesem Minister aus dem Jahr 2005. Aber wo und zu welchem politischen Zweck auch immer unsere Soldaten in Zukunft eingesetzt werden: ob im Kosovo zur Sicherung der größten Ganovendrehscheibe Europas, in Afghanistan, wo die Heroinproduktion wieder Spitzenwerte erreicht, im Kongo, wo angeblich im deutschen Interesse Ruhe und Ordnung aufrecht zu halten sind oder demnächst im Sudan oder Libanon:

Was bedeutet dieser strategische Paradigmenwechsel, also die Transformation von einer Verteidigungs- in eine Interventionsarmee, für die Truppe selbst, für ihr inneres Gefüge? Da gilt es zunächst einmal festzustellen, daß mit den heutigen Auslandseinsätzen auch das Leitbild vom „Bürger in Uniform“ hinfällig wird. Ehrlicherweise hätte er schon mit dem ersten Auslandseinsatz feierlich begraben werden müssen. Denn jetzt muß auch der deutsche Soldat wieder kämpfen können. Und das gilt nicht nur für die Soldaten des „Kommando Spezialkräfte“, sondern für alle Truppenteile, die ins Ausland gehen; denn auch ein friedenserhaltender Einsatz kann sich sehr schnell zu einer blutigen Angelegenheit entwickeln, und dann ist nicht mehr „der Friede der Ernstfall“, sondern „der Ernstfall der Ernstfall“. Aber offiziell hat das Leitbild „Bürger in Uniform“ immer noch Bestand. Es kann und darf ja auch nicht aufgehoben werden, weil es eben zu den Wesensgrundlagen dieser Armee gehört, daß der Soldat keine eigene Rolle und kein eigenes Selbstverständnis haben darf.

Die Ablehnung des „sui generis“ ist nach wie vor der ideologische Kern der Inneren Führung, und die Identität von Militär und Zivilgesellschaft, die in dem Satz des seligen Grafen Baudissin gipfelt: „Für mich gibt es keine soldatischen Tugenden“, ist unverändert gültig. Zwar hat der Inspekteur des Heeres wieder „den archaischen Kämpfer“ gefordert, und der Wille nach einer Wiederbelebung des „Kämpferidols“ ist gerade auf der unteren Führungsebene förmlich mit Händen zu greifen, aber die Bundeswehrführung lehnt bis heute eine Grundsatzdiskussion ab und propagiert eher eine Art „multikulturellen Sozialarbeiter mit Spezialbewaffnung.“ Nun wäre der Abschied vom „Bürger in Uniform“ kein besonders schmerzliches Ereignis, und eine Armee, in der der Soldat wieder Soldat ist und sein darf, und in der der Dienst beim „Bund“ nicht in weiten Teilen nur als „krisenfester Job“ betrachtet wird, wäre in jedem Fall zu begrüßen.

Aber – muß man sie deshalb gleich nach Osttimor schicken? Denn eins ist sicher: am Ende dieser Transformation wird eine andere Bundeswehr stehen, mit anderer Bewaffnung, anderem Gerät und vor allem mit anderen Soldaten, also insgesamt eine Armee, die ein völlig anderes Erscheinungsbild hat, als alle früheren deutschen Armeen. Zunächst ist eine Interventionsarmee im eigenen Land immer ein Fremdkörper, ob sie will oder nicht. Denn wenn sie sinnvoll sein soll, kann sie nicht im eigenen Land stationiert sein. Es ist genau die Armee, die wir in den früheren Kolonialarmeen unserer heutigen Alliierten finden. Und eine solche Armee hat natürlich immer auch eine ausgeprägte Eigengesetzlichkeit. Zum zweiten gibt es in all diesen Armeen eine sehr scharfe soziale Spaltung: die Offiziere waren anerkannt, während es sich bei den Mannschaften überwiegend um geprügelte, zwangsweise rekrutierte Männer aus den unteren Schichten handelte. Man trug also nicht einheitlich, wie in Preußen, des „Königs Rock“, sondern es war eher wie bei der Royal Navy: die Offiziere hatten Ansehen, und unter Deck war – plakativ gesagt – der Schrott, also genau nicht der „Bürger in Uniform.“ Diesen Soldatentypus hat es in Deutschland nie gegeben, weil wir immer eine Verteidigungsarmee hatten, die eine Einheit war. Wenn der Feldmarschall anerkannt war, dann war es auch der Soldat. Oder es wurden alle verdammt. Aber die Armee war eine Einheit. Jetzt verteidigt sie nicht mehr das Vaterland, sondern sie ist Spielmasse der Politik.

Und dafür muß sie entschädigt werden, materiell oder durch innere Freiheiten. Und diese Freiheiten wird sie sich nehmen, oder es wird eine solche Armee nicht geben. Und eine Wehrpflicht kann es in einer solchen Armee schon deshalb nicht geben, weil die Wehrpflicht ja immer selektiv ist, und man kann nicht eine willkürlich selektierte Gruppe von Bürgern ins Feuer schicken. Ohnehin besteht kein Zweifel darüber, daß sich dieser Staat von einer ernsthaften Landesverteidigung auf lange Zeit verabschiedet hat. Herr Struck hat in ministerieller Weitsicht festgestellt, daß „eine krisenhafte Entwicklung in Mitteleuropa zur Zeit nicht vorhersehbar sei“, wobei wir uns freilich erstaunt fragen, was denn das für Krisen sind, die sich vorhersehen lassen; denn das Unvorhersehbare gehört ja gerade zum Wesen der Gefahr. Die Geschichte ist voll von Beispielen, wie schnell alte Bündnisse zerbrechen und neue Koalitionen entstehen.

Und all diejenigen Politiker, die immer wieder euphorisch behaupten, wir seien „von Freunden umzingelt“, sollten sich die alte Erkenntnis in Erinnerung rufen, dass Staaten niemals Freunde haben – Staaten haben Interessen, was offenbar nur wir nicht begreifen können, weil wir keine haben, bzw. haben wollen. Und wie dann – praktisch aus dem Nichts – eine hinreichende Landesverteidigung aufgebaut werden soll, nachdem das militärische Tafelsilber verkauft und eine nennenswerte Personalreserve nicht mehr zur Verfügung steht, das wird das Geheimnis unserer weisen Politiker bleiben, die geschworen haben, „Schaden vom deutschen Volk abzuwenden“. Wenn man nun die Frage stellt, ob sich dieses deformierte Erscheinungsbild vielleicht im Zuge der Auslandseinsätze auf natürlichem Wege wieder normalisieren wird – so, wie ja jeder Organismus das Bestreben hat, sich von einer Krankheit zu heilen – dann muss man noch einen Schritt weiter gehen. Deutschland ist vermutlich das weltweit einzige Land, das den interessanten Versuch unternommen hat, Streitkräfte ohne Militärtradition aufzustellen.

Man hat ja der Bundeswehr überhaupt nur drei Traditionsstücke zugestanden: die Preußische Heeresreform, den „20. Juli 1944“, und – man höre: – die Bundeswehr selbst! Dabei wird das Werk der preußischen Reformer, dessen Kernziel die nationale und kriegerische Begeisterung des ganzen Volkes war, für die Bundeswehr eher auf das Gegenteil uminterpretiert, nämlich die Verbürgerlichung des Militärs. Und auch die Verschwörer des 20. Juli werden nur als antifaschistische Akteure gefeiert, ohne auf ihre nationalkonservative Gedankenwelt zu Deutschland auch nur im Geringsten einzugehen. So sehr diese Frauen und Männer allerhöchsten Respekt verdienen, so darf man nicht vergessen, daß es sich bei diesem Aufstand gegen die Obrigkeit um eine extreme Ausnahmesituation gehandelt hat. Und es bleibt zumindest fraglich, ob man eine Ausnahme zur Maxime, zur Richtschnur für künftiges Handeln machen sollte. Die Truppe kann doch aus einem Aufstand gegen die Staatsgewalt, aus einem Akt der Rebellion keine Kraft schöpfen! Sie braucht Vorbilder, die ihr Mut und Vertrauen in ihre Führung vermitteln, die Gehorsam, Disziplin und Moral befördern, anstatt sie zweifelnd und unsicher zurückzulassen.

Und für das Kernstück der Traditionspflege, „die Bundeswehr selbst“, bleibt festzustellen, daß die Leistung unserer Soldaten und zivilen Mitarbeiter in 50 Friedensjahren beim Auf- und Abbau der Bundeswehr zweifellos große Anerkennung verdient. Ob aber eine solche „Firmengeschichte“ eine jahrhundertlange Militärtradition aufwiegen kann, und ob sie darüber hinaus in der Lage ist, den Soldaten im Kriegseinsatz, in Todesgefahr zu motivieren, darf wohl eher bezweifelt werden.

Militärische Tradition bildet sich ausschließlich auf dem Gefechtsfeld und nicht bei Waldbrandbekämpfung oder Hochwassereinsatz, und sie wird nicht mit Tinte geschrieben, sondern mit Blut. Aber eine Rückbesinnung auf frühere deutsche oder preußische Armeen, auf große deutsche Soldaten, auf beispielhafte militärische Leistungen ist gemäß Traditionserlaß verboten, weil soldatische Werte bei uns nur dann traditionswürdig sind, wenn sie dem heutigen politischen Zweck entsprechen.

Und daher kann und darf es keine Traditionslinie zu allen vordemokratischen Armeen geben. Nun kann ein Land, das den ewigen Frieden in Europa zu einer Art Dogma erklärt hat und das für den Fall der Landesverteidigung felsenfest auf seine Bündnispartner vertraut, sich solche ideologischen Experimente gefahrlos leisten, weil ja ein Versagen der Bundeswehr in einem Auslandseinsatz keine Auswirkungen auf die Existenz dieses Staates hätte. Aber es wäre natürlich eine Demütigung für die Streitkräfte und ein peinlicher Rückschlag für die Reputation innerhalb der Staatengemeinschaft.

Außerdem wird mancher junge Mann nachdenklich werden in seinem Entschluß, diesen Beruf zu ergreifen, wenn er sieht, wie dieses Land mit seinen Vätergenerationen umgeht. Welche Nation hätte jemals einen ihrer großen Soldaten – oder gar ganze Armeen der „damnatio memoriae“ anheim fallen lassen, weil sie ihre militärischen Leistungen in einem Angriffskrieg oder für „einen falschen Staat“ erbracht haben?

Bleibt ein Diamant nicht immer ein Diamant – egal an welchem Finger? Werden die Werke eines Michelangelo geringer geschätzt, weil sie im Auftrag eines verachtungswürdigen Papstes geschaffen wurden?

Und gibt es nicht gerade in der deutschen Militärgeschichte neben einer Vielzahl einzigartiger militärischer Leistungen auch eine Fülle charakterlich, moralisch herausragender, und damit für alle Zeiten beispielhafter Handlungsweisen? Welche Nation könnte allein in den letzten 250 Jahren – von Tannenberg bis Leuthen, von Sedan bis zur Operation „Sichelschnitt“, von Kreta bis Eben Emael – auf Zeugnisse größter militärischer Leistungen verweisen, für die es in der Kriegsgeschichte nur wenige Beispiele gibt? Jedes andere Volk würde sich derartiger Feldherrn, ihrer tapferen Truppen sowie ihrer gefallenen Söhne ehrend erinnern, während unsere politische Kaste in ideologisch blasierter Arroganz diese Generationen als „nicht traditionswürdig“ verurteilt. Und so können der „Bürger in Uniform“ und seine Angehörigen erahnen, was sein Opfer wert sein wird, vor allem, wenn sich ein Einsatz nachträglich als falsch herausstellen sollte.

Nun hat sich ja die Bundeswehr, wie wir immer wieder hören und lesen können, in den 50 Jahren ihres Bestehens „in jeder Beziehung vorzüglich bewährt“: von der Inneren Führung bis zum Haarnetz, vom „Bürger in Uniform“ bis zur viermaligen Verkürzung der Wehrpflicht, und sie braucht angeblich auch bei den Auslandseinsätzen keinen Vergleich mit unseren Alliierten zu scheuen. Das kann man so behaupten, und es mag für den Friedensbetrieb vielleicht sogar zutreffen. Ob sich aber eine Friedensarmee – und vor allem eine, die noch stolz darauf ist – im Feure bewährt, ist nur sehr schwer vorherzusagen. Die Preußen hatten unter Friedrich dem Großen den Nimbus der Unbesiegbarkeit. 1806 verloren sie bei Jena und Auerstedt eine Schlacht, die selbst gegen einen Napoleon nur mit äußerster Anstrengung zu verlieren war.

Bis zum 10. Mai 1940 galt die französische Armee als die beste des Kontinents. Sechs Wochen später war dieses Urteil eindrucksvoll revidiert. Und so zeigt eine Vielzahl weiterer Beispiele, daß dieser sogenannte „Ernstfall“ von vielen Unwägbarkeiten abhängt und daher kaum zu prognostizieren ist. Aber nach allem, was die Kriegsgeschichte lehrt, läßt sich dieses Risiko zumindest begrenzen durch eine ganz bewußte soldatische Erziehung und Vorbereitung auf diese letzte große Bewährungsprobe. Außerhalb unseres Landes sowie in einer dreitausendjährigen geschriebenen Militärgeschichte gibt es nicht den geringsten Zweifel über die Bedeutung der Traditionspflege als wichtiges Stück nationaler Identität und Selbstachtung und – weil sich erfolgreiche Erziehung vor allem an Vorbildern orientiert und nicht im luftleeren Raum stattfindet. Glauben wir wirklich, daß unsere Soldaten bereit sein werden, für irgendwelche vage formulierten, abstrakten Werte zu sterben? Etwa für diese – im wahrsten Sinne des Wortes – wertlose Spaß- und Wohlstandsgesellschaft, die sich von allen klassischen Tugenden verabschiedet hat? Wird das Soldatengesetz die Truppe zusammenhalten und ihr die Kraft geben, ihr Leben einzusetzen, zu stehen und zu halten, wenn es nicht einmal um ihre Existenz, sondern nur um schwer durchschaubare politische Interessen geht? Man muß nicht Militärgeschichte studiert haben, um zu wissen, warum die Spartaner, die Römer, die Mazedonier, die Preußen oder die Wehrmacht allen Gegnern ihrer Zeit um Längen überlegen waren. Und es wäre daher wirklich ein leichtes, jetzt der veränderten militärpolitischen Situation dadurch Rechnung zu tragen, daß wir uns wieder an den großen soldatischen Vorbildern unserer Nation ausrichten, und unsere Streitkräfte auf ein soldatisches Selbstverständnis hin erziehen - unter gleichzeitiger Ausmusterung des „Bürgers in Uniform“.

Aber leider ist kein Patient schwerer zu heilen, als derjenige, der nicht genesen will. Und da in diesem Land Geschichte und Tradition nicht eine Frage des Quellenstudiums oder historischer Fakten sind, sondern der politischen Macht und damit der ideologischen Deutungshoheit unterliegen, und nachdem man vor allem nun auch die Traditionsfrage mit dem Holocaust verbunden und damit jeder irdischen Diskussion entzogen hat, ist eine Änderung auf evolutionärem Wege nicht zu erwarten. Die beiden großen politischen Lager stehen sich hier in nichts nach; und eine Fülle von Beispielen zeigt, daß jeder, der diesen „Pfad der Tugend“ auch nur um einen Fingerbreit verläßt, mit seinem sofortigen politischen Ableben rechnen muß. Und weil der große Nachteil der Vernunft leider darin besteht, daß sie nur von Vernünftigen verstanden wird, ist hier mit Argumenten nichts auszurichten.

Natürlich werden die Auslandseinsätze Haltung und Bewußtsein der Truppe verändern; aber wie man auch einen Gartenschlauch nicht in eine bestimmte Richtung schieben, sondern nur von vorne ziehen kann, so kann und wird eine durchgreifende Reformation niemals aus der Truppe heraus, sondern nur von oben erfolgen; und das wird wohl leider erst nach einem „Jena und Auerstedt“ eintreten, wann und wo immer dies auch stattfindet. Was sonst – außer einer Katastrophe – könnte diese Hohenpriester zu einer Umkehr veranlassen?

Und weil man, wie Goethe sagt, meistenteils verstummen muß, um nicht wie Kassandra für wahnsinnig gehalten zu werden, wenn man vorhersagt, was vor der Tür steht, will ich schließen in der festen Überzeugung, daß nichts so sehr über die Zukunft unserer Streitkräfte – und damit letztlich auch unserer Nation – entscheiden wird wie die Beantwortung der militärischen Gretchen-Frage: „Wie hast du’s mit der Tradition?“

Quelle: http://swg-hamburg.de/Armee_im_Kreuzfeuer/Von_der_Verteidigungs-_zur_Int/von_der_verteidigungs-_zur_int.html

Fand ich sehr interresant, grade auch weil ich an einem Verweigerungsbrief an den Bund schreibe.

Hoffentlich ist das nicht zu schwer verdaulich. Was sagt ihr dazu?